EuGH: Die Möglichkeit, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen,
damit die Strafe im Wohnsitzmitgliedstaat vollstreckt wird, muss auch für Drittstaatsangehörige gelten
Gerichtshof der Europäischen Union 6.6.2023, Pressemitteilung 90/2023
Die vollstreckende Justizbehörde muss beurteilen können, ob der Drittstaatsangehörige hinreichend im Vollstreckungsmitgliedstaat integriert ist und ob somit ein berechtigtes Interesse daran besteht, dass die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt wird
Am 13. Februar 2012 stellte das Gericht erster Instanz Brașov (Kronstadt, Rumänien) gegen einen moldauischenStaatsangehörigen einen Europäischen Haftbefehl (im Folgenden: EHB) zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe aus.
Das Berufungsgericht Bologna ist die Justizbehörde, die um die Übergabe des Gesuchten ersucht wurde, da dieser in Italien lebt. Obwohl die Verteidigung nachgewiesen hat, dass er stabile familiäre und berufliche Wurzeln in Italien hat, kann die ersuchte Justizbehörde in Italien die Übergabe an Rumänien nicht verweigern, damit die Strafe in Italien vollstreckt wird. Nach dem italienischen Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den EHB¹ ist diese Möglichkeit auf italienische Staatsangehörige und Angehörige anderer Mitgliedstaaten der Union beschränkt, die Bindungen zu Italien aufweisen, und schließt Drittstaatsangehörige aus.
Da das Berufungsgericht Bologna diese Ungleichbehandlung für ungerechtfertigt hielt, wandte es sich an den italienischen Verfassungsgerichtshof. Dieser meint, dass vor der Prüfung der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung mit der italienischen Verfassung ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht zu prüfen sei. Der Rahmenbeschluss über den EHB sieht die Möglichkeit vor, dass die Mitgliedstaaten dem Gericht die Befugnis einräumen, die Vollstreckung eines EHB abzulehnen, wenn sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, diese Strafe nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken. Da der Anwendungsbereich dieser Bestimmung nicht nur auf Unionsbürger beschränkt ist, hat der italienische Verfassungsgerichthof den Gerichtshof dazu befragt.
In seinem heutigen Urteil antwortet der Gerichtshof (Große Kammer), dass das Unionsrecht einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die jeden Drittstaatsangehörigen, der sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat, absolut und automatisch von der Anwendung des fakultativen Grundes für die Nichtvollstreckung des EHB ausschließt, ohne dass die vollstreckende Justizbehörde die Bindungen des Drittstaatsangehörigen zu diesem Mitgliedstaat beurteilen kann. Eine solche nationale Regelung widerspricht dem in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung, da sie die Angehörigen des ersuchten Mitgliedstaats und die anderen Unionsbürger einerseits und die Drittstaatsangehörigen andererseits unterschiedlich behandelt, ohne den Umstand zu berücksichtigen, dass auch Letztere ein hinreichendes Maß an Integration innerhalb der Gesellschaft dieses Mitgliedstaats aufweisen können, das es rechtfertigt, die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe im ersuchten Mitgliedstaat zu vollstrecken.
Die Anwendung des in Rede stehenden fakultativen Grundes für die Nichtvollstreckung hängt von zwei Voraussetzungen ab. Erstens, dass sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat. Zweitens, dass sich dieser Staat verpflichtet, die Strafe, für die der EHB ausgestellt wurde, nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken. Der Gerichtshof hat zu der ersten Voraussetzung erläutert, dass nichts dagegen spricht, dass ein Mitgliedstaat bei Drittstaatsangehörigen die Anwendung des Grundes für die Nichtvollstreckung davon abhängig macht, dass sich der Drittstaatsangehörige über einen ununterbrochenen Mindestzeitraum hinweg dort aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat.
Stellt die vollstreckende Justizbehörde fest, dass beide Voraussetzungen erfüllt sind, muss sie noch beurteilen, ob ein berechtigtes Interesse daran besteht, dass die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt wird. Bei dieser Beurteilung kann das mit dem Rahmenbeschluss über den EHB verfolgte Ziel berücksichtigt werden, das darin besteht, die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Strafe zu erhöhen.
Es ist daher Sache der vollstreckenden Justizbehörde, in einer Gesamtschau alle konkreten die Situation der gesuchten Person kennzeichnenden Faktoren zu würdigen, die darauf hinweisen können, ob zwischen dieser Person und dem Vollstreckungsmitgliedstaat Bindungen bestehen, die dergestalt sind, dass die Vollstreckung der Strafe in dem Staat, in dem sich diese Person aufhält oder ihren Wohnsitz hat, zu ihrer Resozialisierung beitragen wird. Zu diesen Faktoren gehören die familiären, sprachlichen, kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen Bindungen des Drittstaatsangehörigen zum Vollstreckungsmitgliedstaat sowie Art, Dauer und Bedingungen seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat.
¹ Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Stellungnahmen bestimmter Mitgliedstaaten zur Annahme des Rahmenbeschlusses (ABl. 2002, L 190, S. 1)
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Der Volltext des Urteils wird am Tag der Verkündung auf der Curia-Website veröffentlicht.