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BFH: Anwendung geschlechterdifferenzierender Sterbetafeln im Rahmen der Bewertung für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer

Die Anwendung geschlechterdifferenzierender Sterbetafeln bei der Bewertung lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer im Rahmen von § 14 Abs. 1 des Bewertungsgesetzes ver­stößt nicht gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes.

BewG § 14 Abs. 1, 2
GG Art. 3 Abs. 3 Satz 1

BFH-Urteil vom 20.11.2024, II R 38/22 (veröffentlicht am 10.4.2025)

Vorinstanz: FG Köln vom 18.8.2022, 7 K 1800/21 = SIS 23 01 91

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) sowie seine beiden Geschwister schlossen mit ihrem Vater (V) am …2014 einen notariell beurkundeten Vertrag zur vorweggenommenen Erbfolge, mit dem V ihnen zum 01.05.2014 jeweils 23,33 % seiner Anteile an der … GmbH (GmbH) übertrug. An den übertragenen Geschäftsanteilen behielt sich V den lebenslangen unentgeltlichen Nießbrauch vor. Eine Gegenleistung für den Er­werb der Geschäftsanteile hatten der Kläger und seine Geschwister nicht zu erbringen. Zu einer Ausgleichung nach den §§ 2050 ff. des Bürgerlichen Ge­setzbuchs (BGB) waren sie nicht verpflichtet. In § 4 des notariellen Vertrags wurde vereinbart, dass der Nießbraucher während der Dauer des Nießbrauchs alle mit den übertragenen Geschäftsanteilen verbundenen Lasten, insbeson­dere fällig werdende Einlagen und Nachschüsse, zu tragen hat.

Mit Bescheid vom 23.08.2021 setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) Schenkungsteuer in Höhe von 1.918 € gegenüber dem Klä­ger fest. Dabei legte das FA für die an den Kläger übertragenen Anteile einen Wert in Höhe von 781.864 € zugrunde. Dieser Wert beruhte auf einem Be­scheid des für die GmbH zuständigen Belegenheitsfinanzamts vom 23.06.2021 über die gesonderte und einheitliche Feststellung nach § 151 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Bewertungsgesetzes (BewG). Von dem Anteilswert brachte das FA den Kapitalwert des Nießbrauchsrechts des V in Höhe von 354.406 € in Abzug, so dass sich der Wert des Erwerbs auf 427.458 € belief. Zur Ermittlung dieses Kapitalwerts setzte es den Jahreswert des Nießbrauchs gemäß § 16 BewG mit 1/18,6 des Werts der übertragenen Anteile an (781.864 € : 18,6 = 42.036 €) und multiplizierte diesen Betrag gemäß § 14 Abs. 1 BewG mit dem sich aus der amtlichen Sterbetafel ergebenden Vervielfältiger von 8,431 aufgrund des im Zeitpunkt der Schenkung vollende­ten 74. Lebensjahres des V als Nießbrauchsberechtigtem.

Die gegen den Schenkungsteuerbescheid vom 23.08.2021 vom Kläger mit Zu­stimmung des FA erhobene Sprungklage wies das Finanzgericht (FG) ab. Die Urteilsgründe sind in Entscheidungen der Finanzgerichte 2023, 243 veröffent­licht.

Mit der gegen das FG-Urteil erhobenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

Er vertritt die Auffassung, dass bei der Berechnung des Kapitalwerts des Nieß­brauchs ein höherer Vervielfältiger hätte verwendet werden müssen. § 14 BewG enthalte einen "logischen Bruch", da nach Absatz 1 der Vorschrift der Vervielfältiger nach der statistischen Lebenserwartung bemessen werde, in Fällen jedoch, in denen sich das Sterberisiko innerhalb kurzer Zeit verwirkli­che, nach Absatz 2 der Vorschrift der Kapitalwert nach der tatsächlichen Lauf­zeit zu bestimmen sei. Wenn die Ermittlung des Kapitalwerts nach der statisti­schen Lebenserwartung erfolge, von vornherein aber nur solche Sterbefälle berücksichtigt würden, die nach einer bestimmten Mindestdauer eingetreten seien, sei der in den Tabellen nach § 14 Abs. 1 BewG ermittelte Wert mathe­matisch falsch. Außerdem verstoße die Verwendung geschlechterdifferenzie­render Sterbetafeln bei der Bewertung des Nießbrauchs gegen das Diskrimi­nierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG), weil der Gesetzge­ber im Rahmen des § 14 BewG nicht berechtigt sei, das Geschlecht bei der An­wendung der Sterbetafeln mit steuerlicher Wirkung zu berücksichtigen.

Der Kläger beantragt,
die Vorentscheidung aufzuheben und den Schenkungsteuerbescheid vom 23.08.2021 dahin abzuändern, dass die Schenkungsteuer auf 0 € festgesetzt wird.

Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).

Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Übertragung der GmbH-Anteile auf den Kläger aufgrund des notariellen Vertrags vom …2014 gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 7 Abs. 1 Nr. 1 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteu­ergesetzes (ErbStG) der Schenkungsteuer unterliegt (unter 1.). Bei der Ermitt­lung des steuerpflichtigen Erwerbs hat es den Kapitalwert des Vorbehaltsnieß­brauchs zutreffend gemäß § 14 BewG ermittelt und in Abzug gebracht (unter 2. und 3.). Die von dem Kläger erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Vorschrift des § 14 BewG greifen nicht durch (unter 4.). Auch ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht ist nicht ersichtlich (unter 5.).

1. Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 7 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG unterliegt der Schenkungsteuer jede freigebige Zuwendung unter Lebenden, soweit der Be­dachte durch sie auf Kosten des Zuwendenden bereichert wird. Die Übertra­gung der GmbH-Anteile auf den Kläger aufgrund des notariell beurkundeten Vertrags vom …2014 erfüllt diese Voraussetzungen. Die Übertragung der Geschäftsanteile auf den Kläger stellt eine freigebige Zuwendung dar, da sie nicht von einer Gegenleistung des Klägers abhängig war, sondern unentgelt­lich erfolgte. Insbesondere waren nach § 4 des notariellen Vertrags vom …2014 während der Dauer des Nießbrauchs sämtliche mit den übertrage­nen Geschäftsanteilen verbundenen Lasten, die sonst auf die GmbH-Gesell­schafter und damit auch auf den Kläger entfallen wären, abweichend von der gesetzlichen Lastenverteilung von V zu tragen.

2. Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, dass das FA bei der Ermittlung des steuerpflichtigen Erwerbs gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 7 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG den Kapitalwert des Nießbrauchs des V zutreffend in Abzug gebracht hat.

a) Als steuerpflichtiger Erwerb im Sinne des § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG gilt nach § 10 Abs. 1 Satz 1 ErbStG die Bereicherung des Erwerbers, soweit diese nicht steuerfrei ist. Die Belastung mit einem Nießbrauch mindert die Bereiche­rung des Bedachten. Daher ist bei der Ermittlung des steuerpflichtigen Er­werbs die aus einem Vorbehaltsnießbrauch erwachsende Belastung des zuge­wendeten Gegenstandes abzuziehen (vgl. Urteil des Bundesfinanz­hofs ‑‑BFH‑‑ vom 28.05.2019 ‑ II R 4/16, BFHE 265, 408, BStBl II 2020, 326 zur Schenkung eines Grundstücks unter dem Vorbehalt des Nießbrauchs). Ob der Nießbrauch an einer Sache (§ 1030 BGB) oder, wie im Streitfall, an einem GmbH-Anteil (§ 1068 BGB) bestellt wird, ist ohne Bedeutung.

b) Aus § 25 Abs. 1 ErbStG a.F., wonach der Erwerb von Vermögen, dessen Nutzungen dem Schenker zustanden, ohne Berücksichtigung dieser Belastun­gen besteuert wurde und die Steuer, die auf den Kapitalwert dieser Belastun­gen entfiel, bis zu deren Erlöschen zinslos gestundet wurde, folgt nichts ande­res. Die Vorschrift ist durch das Erbschaftsteuerreformgesetz vom 24.12.2008 (BGBl I 2008, 3018, BStBl I 2009, 140) aufgehoben worden und gilt nur noch für Erwerbsvor­gänge, für die die Steuer bis zum 31.12.2008 entstanden ist (BFH-Urteil vom 28.05.2019 ‑ II R 4/16, BFHE 265, 408, BStBl II 2020, 326, Rz 16 f.). Sie fin­det daher im Streitfall, wovon auch das FG stillschweigend ausgegangen ist, keine Anwendung.

3. Wie vom FG zu Recht erkannt, hat das FA den Kapitalwert des Nießbrauchs des V auch der Höhe nach zutreffend gemäß § 14 Abs. 1 BewG ermittelt.

a) Die Bewertung des bei der Zuwendung der GmbH-Anteile vorbehaltenen Nießbrauchs richtet sich gemäß § 12 Abs. 1 ErbStG nach den Vorschriften des Ersten Teils des Bewertungsgesetzes. Der Kapitalwert lebenslänglicher Nut­zungen und Leistungen ist nach § 14 Abs. 1 Satz 1 BewG mit dem Vielfachen des Jahreswerts nach Maßgabe der Sätze 2 bis 4 anzusetzen. Die Vervielfälti­ger sind nach der Sterbetafel des Statistischen Bundesamtes zu ermitteln und ab dem 1. Januar des auf die Veröffentlichung der Sterbetafel durch das Sta­tistische Bundesamt folgenden Kalenderjahres anzuwenden (§ 14 Abs. 1 Satz 2 BewG). Hat eine nach § 14 Abs. 1 BewG bewertete Nutzung oder Leis­tung bei einem Alter von mehr als 70 Jahren bis zu 75 Jahren nicht mehr als fünf Jahre bestanden und beruht der Wegfall der Verpflichtung auf dem Tod des Berechtigten oder Verpflichteten, ist nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 BewG die Festsetzung der nicht laufend veranlagten Steuern auf Antrag nach der wirklichen Dauer der Nutzung oder Leistung zu berichtigen. Ist eine Last weg­gefallen, so bedarf die Berichtigung nach § 14 Abs. 2 Satz 3 BewG keines An­trags.

b) Nach Maßgabe dieser gesetzlichen Regelungen ist die Berechnung des Kapi­talwerts des Nießbrauchs durch das FA nicht zu beanstanden.

aa) Das FA hat den Kapitalwert des Nießbrauchs in der Weise berechnet, dass es den der Höhe nach unstreitigen Jahreswert des Nießbrauchs an den über­tragenen GmbH-Anteilen in Höhe von 42.036 € mit einem Vervielfältiger in Höhe von 8,431 multipliziert hat. Diese Berechnung entspricht den gesetzli­chen Vorgaben aus § 14 Abs. 1 Satz 2 und 4 BewG. Im Hinblick darauf, dass die Übertragung der GmbH-Anteile auf den Kläger mit Wirkung zum 01.05.2014 erfolgte, ergibt sich der anzuwendende Vervielfältiger aus der am 02.10.2012 veröffentlichten Sterbetafel 2009/2011 des Statistischen Bundes­amtes (vgl. § 14 Abs. 1 Satz 4 BewG i.V.m. Schreiben des Bundesministeri­ums der Finanzen ‑‑BMF‑‑ vom 26.10.2012, BStBl I 2012, 950). Denn da für das Jahr 2013 keine aktuelle Sterbetafel veröffentlicht wurde, sind die Verviel­fältiger zur Berechnung des Kapitalwerts lebenslänglicher Nutzungen oder Leistungen, die nach der am 02.10.2012 veröffentlichten Sterbetafel 2009/2011 zugrunde zu legen sind, auch für Bewertungsstichtage vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2015 und damit auch im Streitfall anzuwenden (vgl. § 14 Abs. 1 Satz 4 BewG i.V.m. BMF-Schreiben vom 13.12.2013, BStBl I 2013, 1609). Aus der danach für den 01.05.2014 maßgebenden Sterbetafel ist zur Ermittlung einer lebenslangen Nutzung für einen im Bewertungszeitpunkt 74‑jährigen Mann im Hinblick auf dessen (voraussichtliche) Lebenserwartung von 11,21 Jahren der Vervielfältiger in Höhe von 8,431 heranzuziehen.

bb) Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine von § 14 Abs. 1 Satz 2 BewG abweichende Bestimmung des Vervielfältigers nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 BewG hat das FA zutreffend nicht als erfüllt angesehen, weil nach den Feststellungen des FG das Nießbrauchsrecht des V mehr als fünf Jahre nach der Ausführung der Schenkung zum 01.05.2014 bestanden hat.

cc) Ebenso hat das FA zu Recht davon abgesehen, bei der Berechnung des Ka­pitalwerts des Nießbrauchs den vom Kläger geltend gemachten Vervielfältiger von 9,509 anzusetzen. Soweit der Kläger sich zur Begründung des von ihm er­rechneten Vervielfältigers darauf beruft, dass Sterbefälle, die innerhalb des Korrekturzeitraums des § 14 Abs. 2 BewG erfolgen, bei einer "schlichten" An­wendung des § 14 Abs. 1 BewG doppelt berücksichtigt würden und daher nur solche Sterbefälle in die Berechnung des "mathematisch richtigen" Vervielfältigers einfließen dürften, die nach Ablauf dieses Korrekturzeitraums eingetre­ten seien, vermag sich der Senat dieser Betrachtungsweise nicht anzuschlie­ßen. Der Gesetzgeber hat mit der Regelung in § 14 Abs. 1 Satz 2 BewG seinen Willen zum Ausdruck gebracht, dass bei der (schätzweisen) Ermittlung des Ka­pitalwerts lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen hinsichtlich der voraus­sichtlichen Lebenserwartung auf die jeweils aktuelle Sterbetafel des Statisti­schen Bundesamtes zurückzugreifen ist (vgl. BTDrucks 16/7918, S. 39). Zwar ist die Nutzung oder Leistung gemäß § 14 Abs. 4 Satz 1 BewG mit dem gemeinen Wert anzusetzen, wenn dieser geringer oder höher ist als der Wert, der sich nach Absatz 1 ergibt. Die Vorschrift ermöglicht jedoch lediglich den Ansatz ei­nes "nachweislich" abweichenden Werts, was gleichzeitig bedeutet, dass es sich um einen tatsächlichen Wert handeln muss (BFH-Beschluss vom 17.05.2023 ‑ II B 82/22, BFH/NV 2023, 945, Rz 13). Der Kläger knüpft dem­gegenüber mit seiner Wertermittlungsmethode nicht an einen nachweislich an­deren Wert zum Wertermittlungsstichtag an, sondern legt seiner Berechnung des Vervielfältigers eine Verbindung aus tatsächlich zurückgelegter Lebenszeit (dem durch § 14 Abs. 2 BewG vorgegebenen Berichtigungszeitraum) und einer statistischen Lebenserwartung zu einem späteren Zeitpunkt (dem Ende des Berichtigungszeitraums) zugrunde. Damit ersetzt er die gesetzliche Typisie­rung durch eine andere Typisierung auf abweichenden Berechnungsgrundla­gen, was in § 14 Abs. 4 Satz 1 BewG keine Grundlage findet. Entgegen der Auffassung des Klägers kommt es bei Anwendung der gesetzlichen Regelungen auch nicht zu einer Doppelerfassung von Sterbefällen (vgl. hierzu bereits BFH-Beschluss vom 17.05.2023 ‑ II B 82/22, BFH/NV 2023, 945, Rz 15).

Hinzu kommt, dass die Argumentation des Klägers darauf hinausläuft, dass bei der Ermittlung des Kapitalwerts des Nießbrauchs von einer höheren Lebenser­wartung des V auszugehen wäre als diejenige, die sich nach der gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 und 4 BewG maßgebenden Sterbetafel für 74‑jährige Männer ergibt (13,28 Jahre statt 11,21 Jahre). Der Nachweis eines vom Kapitalwert abweichenden gemeinen Werts mit der Begründung, es sei mit einer kürzeren oder längeren Lebensdauer zu rechnen, als sie den Vervielfältigern des § 14 Abs. 1 BewG entspricht, ist jedoch nach § 14 Abs. 4 Satz 2 BewG kraft Geset­zes ausgeschlossen. Es bedarf vor diesem Hintergrund auch keiner Entschei­dung der Frage, ob die Prämisse des Klägers, aus mathematisch-logischen Gründen sei eine Korrektur der sich aus § 14 Abs. 1 BewG ergebenden Be­rechnung des Kapitalwerts lebenslänglicher Leistungen und Nutzungen gebo­ten, zutrifft. An die gesetzlich vorgegebene Berechnungsmethodik sind die Verwaltung und die Gerichte nach dem Vorbehalt des Gesetzes gemäß Art. 20 Abs. 3 GG gebunden. Der von dem Kläger errechnete Vervielfältiger wäre da­her selbst dann nicht zugrunde zu legen, wenn er gegenüber dem sich aus § 14 Abs. 1 Satz 2 BewG ergebenden Vervielfältiger in mathematisch-logischer Hinsicht vorzugswürdig wäre.

4. Eine Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO und eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur verfassungsgerichtlichen Prüfung, ob § 14 Abs. 1 BewG mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG vereinbar ist, kommt nicht in Betracht. Der Senat ist nicht davon überzeugt, dass die Ermittlung des Kapi­talwerts von lebenslänglichen Nutzungen und Leistungen nach unterschiedli­chen Vervielfältigern für Männer und Frauen gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verstößt.

a) Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darf niemand wegen seines Geschlechts be­nachteiligt oder bevorzugt werden. Die Vorschrift konkretisiert und verstärkt den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Das Geschlecht darf grundsätzlich nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehand­lung herangezogen werden. Das gilt auch dann, wenn die Regelung nicht un­mittelbar auf eine nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern in erster Linie andere Ziele verfolgt. An das Geschlecht anknüpfende differenzierende Regelungen sind mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG grundsätzlich nur dann vereinbar, wenn und soweit sie zur Lösung von Proble­men, die ihrer Natur nach entweder nur bei Männern oder nur bei Frauen auf­treten können, zwingend erforderlich sind. Ausnahmsweise können sie auch durch sonstige Sachgründe zu rechtfertigen sein, die jedoch von erheblichem Gewicht sein müssen (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 14.04.2010 ‑ 1 BvL 8/08, BVerfGE 126, 29 und vom 10.07.2012 ‑ 1 BvL 2/10, 1 BvL 3/10, 1 BvL 4/10, 1 BvL 3/11, BVerfGE 132, 72, m.w.N.). Soweit die Regelungen nicht unerlässlich sind, um geschlechtsbezogenen Besonderheiten oder sonstigen zwingenden Gründen Rechnung zu tragen, kommt die Recht­fertigung einer geschlechterbedingten Ungleichbehandlung im Wege der Abwä­gung mit kollidierendem Verfassungsrecht unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in Betracht (vgl. BVerfG-Urteil vom 22.11.2023 ‑ 1 BvR 2577/15, 1 BvR 2578/15, 1 BvR 2579/14, BVerfGE 167, 239, Rz 59 zu Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG).

b) Bestimmt der Gesetzgeber eine Gruppe nach sachlichen Merkmalen, die nicht in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannt sind, so ist diese Regelung an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen. Etwas anderes gilt, wenn der vom Gesetzgeber gewähl­te, durch Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nicht verbotene sachliche Anknüpfungs­punkt in der gesellschaftlichen Wirklichkeit weitgehend nur für eine Gruppe zu­trifft oder die differenzierende Regelung sich weitgehend nur auf eine Gruppe im Sinne einer faktischen Benachteiligung auswirkt, deren Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG untersagt ist (mittelbare Diskriminierung). Eine Anknüpfung an das Geschlecht kann deshalb auch dann vorliegen, wenn eine geschlechtsneutral formulierte Regelung überwiegend Personen eines Ge­schlechts trifft und dies auf natürliche oder gesellschaftliche Unterschiede zwi­schen den Geschlechtern zurückzuführen ist (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 18.06.2008 ‑ 2 BvL 6/07, BVerfGE 121, 241, Rz 49 und vom 10.07.2012 ‑ 1 BvL 2/10, 1 BvL 3/10, 1 BvL 4/10, 1 BvL 3/11, BVerfGE 132, 72, Rz 57, m.w.N.).

c) Nach diesen verfassungsrechtlichen Grundsätzen ist die durch § 14 Abs. 1 BewG vorgegebene Ermittlung des Kapitalwerts von lebenslänglichen Nutzun­gen und Leistungen nach unterschiedlichen Vervielfältigern für Männer und Frauen am Maßstab des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG zu messen.

aa) Zwar führt die Heranziehung der nach dem Geschlecht differenzierenden Sterbetafeln im vorliegenden Fall nicht zu einer Benachteiligung des Klägers aufgrund seines eigenen Geschlechts im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, denn die Ermittlung des Kapitalwerts des Nießbrauchs bei der Festsetzung der Schenkungsteuer erfolgt im Streitfall nicht in Abhängigkeit von seinem Ge­schlecht, sondern dem Geschlecht (und Lebensalter) des V als Nießbrauchsbe­rechtigten. Wäre Empfänger der zugewendeten nießbrauchsbelasteten Anteile eine Frau, wäre für den vorbehaltenen Nießbrauch kein anderer Kapitalwert zu berücksichtigen als derjenige, der im Streitfall beim Kläger in Ansatz gebracht worden ist.

bb) Indem § 14 Abs. 1 BewG zur Bestimmung der Vervielfältiger, die bei der Ermittlung des Kapitalwerts eines lebenslänglichen Nießbrauchs anzuwenden sind, unmittelbar an die sich aus den Sterbetafeln ergebende statistisch unter­schiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen anknüpft (vgl. § 14 Abs. 1 Satz 4 BewG), führt die Regelung jedoch insoweit zu einer geschlech­terbedingten Ungleichbehandlung von Männern und Frauen, als der zu ver­steuernde Kapitalwert des Nießbrauchs zugunsten einer Frau aufgrund ihrer statistisch höheren Lebenserwartung entsprechend höher ausfällt als bei ei­nem (gleichaltrigen) Mann. Jedenfalls in dieser Fallkonstellation bewirkt die Vorschrift daher eine ungleiche steuerliche Behandlung, die einer unmittelba­ren Benachteiligung wegen des eigenen Geschlechts im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG gleichsteht.

d) Nach Auffassung des Senats ist diese geschlechterbedingte Differenzierung im Rahmen der Bewertung für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

aa) Die Verwendung der geschlechterdifferenzierenden Sterbetafeln im Rah­men von § 14 Abs. 1 BewG dient einem legitimen Ziel mit Verfassungsrang, nämlich die Kapitalwerte lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen für Zwe­cke der Erbschaft- und Schenkungsteuer mit zutreffenden Werten zu erfassen und entsprechend dem Leistungsfähigkeitsgrundsatz der Besteuerung zu­grunde zu legen. Im Hinblick auf die der Erbschaft- und Schenkungsteuer zu­grunde liegende gesetzgeberische Belastungsentscheidung, den durch Erbfall oder Schenkung anfallenden Vermögenszuwachs und die dadurch eintretende Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Erwerbers zu besteuern, erfordert eine gleichheitsgerechte Belastung der Steuerpflichtigen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG, dass für die zu einer Erbschaft oder Schenkung gehören­den Wirtschaftsgüter Bemessungsgrundlagen gefunden werden, die deren Werte zutreffend und in ihrer Relation realitätsgerecht abbilden. Eine diesem Gebot genügende Erbschafts- und Schenkungsbesteuerung ist wegen der be­schriebenen Belastungsentscheidung des Gesetzgebers nur dann gewährleis­tet, wenn sich das Gesetz auf der Bewertungsebene am tatsächlichen (gemei­nen) Wert als dem maßgeblichen Bewertungsziel orientiert. Nur dieser bildet den durch den Substanzerwerb vermittelten Zuwachs an Leistungsfähigkeit zu­treffend ab und ermöglicht eine gleichheitsgerechte Ausgestaltung der Belas­tungsentscheidung (vgl. hierzu BVerfG-Beschluss vom 07.11.2006 ‑ 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, Rz 101 ff., 107).

bb) Die Verwendung geschlechterdifferenzierender Sterbetafeln ist zur Förde­rung des verfassungsrechtlich gebotenen Regelungsziels, eine möglichst reali­tätsgerechte Bewertung lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen für Zwe­cke der Erbschaft- und Schenkungsteuer zu gewährleisten, auch geeignet und erforderlich.

Da sich die Vergleichsgruppe der Frauen von der Vergleichsgruppe (gleichaltri­ger) Männer ausweislich der Sterbetafeln durch eine statistisch höhere Lebens­erwartung unterscheidet, führt die Verwendung geschlechtsspezifisch unter­schiedlicher Vervielfältiger bei der Ermittlung des Kapitalwerts lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen zu genaueren und in ihrer Relation realitätsgerech­teren Bewertungsergebnissen als die Verwendung von um das Geschlecht be­reinigten Vervielfältigern. Es ist nicht ersichtlich, dass eine ebenso realitätsge­rechte Schätzung der voraussichtlichen Dauer lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen durch eine andere, gleich wirksame Regelung auf der Bewertungs­ebene, die nicht an das Geschlecht der jeweils berechtigten Person anknüpft, erreicht werden könnte. Da die statistische Lebenserwartung ausgehend von einem bestimmten Lebensalter je nach Geschlecht unterschiedlich hoch ist, kann der tatsächliche Wert lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen viel­mehr nur bei Zugrundelegung geschlechtsspezifisch unterschiedlicher Sterbe­tafeln und daraus abgeleiteten Vervielfältigern annäherungsweise ermittelt werden.

cc) Die mit der Verwendung geschlechtsspezifisch unterschiedlicher Sterbeta­feln verfolgten verfassungsrechtlichen Ziele stehen nicht außer Verhältnis zu den mit einer solchen Regelung verbundenen Nachteilen.

Bei der gebotenen Abwägung ist zu berücksichtigen, dass sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Fallkonstellation die Anwendung der geschlechterdifferen­zierenden Sterbetafeln für den Steuerpflichtigen steuerlich günstiger oder un­günstiger auswirken kann. So ist der zu versteuernde Kapitalwert bei der Zu­wendung eines Nießbrauchs an eine Frau aufgrund ihrer statistisch längeren Lebenserwartung höher zu bewerten als bei der Zuwendung eines Nießbrauchs an einen Mann, was zu einer entsprechend höheren Schenkungsteuer führt. Spiegelbildlich wirkt sich bei einer Schenkung unter Abzug des Kapitalwerts des Nießbrauchs die Anwendung der geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Vervielfältiger zum Nachteil aus, wenn es sich bei dem Schenker um einen Mann handelt, da der Kapitalwert des Nießbrauchs aufgrund seiner kürzeren Lebenserwartung in geringerem Maße steuermindernd in Abzug zu bringen ist als bei einer Schenkung durch eine Frau.

dd) Danach ergibt die gebotene Abwägung, dass das verfassungsrechtliche Er­fordernis einer möglichst genauen Erfassung der Kapitalwerte für Zwecke der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit das Interesse an einer geschlechts­neutralen Bewertung überwiegt. Ließe man die statistisch unterschiedliche Le­benserwartung zwischen den Geschlechtern aus außersteuerlichen Gründen wegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG außer Betracht, indem man der Bewertung eine um das Geschlecht bereinigte und somit auf einem Mittelwert basierende Ster­betafel zugrunde legte, hätte dies zur Folge, dass der mit einer Erbschaft oder Schenkung verbundene Vermögenszuwachs nicht mehr (annäherungsweise) gemäß seinem tatsächlichen Wert erfasst und der daraus resultierende Zu­wachs an Leistungsfähigkeit im Rahmen der Bemessungsgrundlage nicht mehr hinreichend genau abgebildet werden würde. Bei der Abwägung ist zudem zu berücksichtigen, dass der sich bei Verwendung geschlechtsspezifischer Verviel­fältiger ergebende höhere Kapitalwert des Zuwendungsnießbrauchs einer Frau lediglich Ausdruck einer höheren Bereicherung ist, weil statistisch betrachtet mit der höheren Lebenserwartung eine längere Dauer der Berechtigung ein­hergeht. Durch die Anwendung der geschlechterdifferenzierenden Sterbetafeln im Rahmen des § 14 Abs. 1 BewG soll daher gerade eine wirtschaftliche Gleichbehandlung von Männern und Frauen erreicht werden (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 05.09.2013 ‑ 2 C 47.11, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht ‑ Rechtsprechungs-Report 2014, 394, Rz 32).

ee) Es handelt sich zwar um eine rein statistische Gleichbehandlung, weil die tatsächliche Lebensdauer von der bei der Bildung der Vervielfältiger unterstell­ten durchschnittlichen Lebensdauer abweichen kann. Gleichwohl legt der Ge­setzgeber mit der Anknüpfung an die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Lebenserwartung im maßgebenden Bewertungszeitpunkt realitätsgerecht den typischen Fall zugrunde, was insbesondere durch die Heranziehung der jeweils aktuellsten Sterbetafel im Rahmen von § 14 Abs. 1 Satz 2 BewG erreicht wird (vgl. Begründung zum Reichsbewertungsgesetz, RStBl 1935, 161, 163; vgl. auch BFH-Urteil vom 31.10.1969 ‑ III R 45/66, BFHE 97, 558, BStBl II 1970, 196, Rz 10). Atypischen Fällen, in denen die Dauer der Nutzung oder Leistung tatsächlich wesentlich kürzer ist als die nach der unterstellten Lebenserwar­tung zugrunde gelegte Laufzeit, trägt der Gesetzgeber durch die Berichtigung im Rahmen der Anwendung von § 14 Abs. 2 BewG hinreichend Rechnung. An­gesichts dessen ist der Senat der Auffassung, dass mit der Heranziehung der geschlechterdifferenzierenden Sterbetafeln im Rahmen von § 14 Abs. 1 BewG die verfassungsrechtliche Grenze der Zumutbarkeit nicht überschritten wird.

5. Auch ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht ist nicht ersichtlich. Insbeson­dere ist der Anwendungsbereich des vom Kläger angeführten primärrechtli­chen Grundsatzes der Entgeltgleichheit aus Art. 157 des Vertrags über die Ar­beitsweise der Europäischen Union (AEUV) im Streitfall nicht eröffnet (vgl. z.B. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union Kowalska/Freie und Hansestadt Hamburg vom 27.06.1990 ‑ C‑33/89, EU:C:1990:265). Art. 157 Abs. 1 AEUV gewährt keinen allgemeinen Gleichbe­handlungsanspruch, sondern beschränkt ihn auf das Entgelt im Sinne des Art. 157 Abs. 2 AEUV (Krebber in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl., Art. 157 AEUV Rz 20, m.w.N.). Auf die Ermittlung des Kapitalwerts lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen nach § 14 Abs. 1 BewG für Zwecke der Besteue­rung nach § 1 Abs. 1 Nr. 2, § 7 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG ist diese Regelung nicht übertragbar. Im Streitfall anwendbare sekundärrechtliche Vorschriften, die zu einem anderen Ergebnis führen könnten, sind ebenfalls nicht ersichtlich.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

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