EuGH: Unterschiedliche Behandlung von Dividenden inländischer Herkunft, die von gebietsansässigen und gebietsfremden OGAW bezogen werden
Das Recht der Union steht französischen Rechtsvorschriften entgegen, die für Dividenden inländischer Herkunft, die von gebietsansässigen und gebietsfremden Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) bezogen werden, eine unterschiedliche steuerliche Regelung eingeführt haben
Gerichtshof der Europäischen Union - Presse und Information - 10. Mai 2012, Pressemitteilung Nr. 58/12
Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-338/11, Santander Asset Management SGIIC SA / Directeur des résidents à l’étranger et des services généraux, und C-339/11 bis C-347/11, Santander Asset Management SGIIC SA u. a. / Ministre du Budget, des Comptes publics, de la Fonction publique et de la Réforme de l’État = SIS 12 24 93
Das Recht der Union verbietet alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern1. Dieses Verbot berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln2. Diese Vorschriften dürfen jedoch weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs darstellen3.
Diesen Rechtssachen liegen Streitigkeiten über die französische steuerliche Regelung für Dividenden zugrunde, die von einer in Frankreich ansässigen Gesellschaft an Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW)4, die nicht in diesem Staat ansässig sind, ausgeschüttet werden. Die OGAW (Investmentfonds, die von einer Verwaltungs- oder Investmentgesellschaft verwaltet werden) erlauben einem Anleger (Anteilsinhaber), die Verwaltung seines Kapitals einem Fachmann anzuvertrauen, der sich um die Investition seines Kapitals auf einem oder mehreren bestimmten Finanzmärkten kümmert. Nach der französischen Steuerregelung unterliegen die Dividenden, die an nicht in Frankreich ansässige OGAW ausgeschüttet werden, einer Quellensteuer von 25 %, während solche Dividenden nicht besteuert werden, wenn sie an einen gebietsansässigen OGAW ausgeschüttet werden.
Zehn belgische, deutsche, spanische und US amerikanische OGAW5, die insbesondere in Aktien französischer Gesellschaften investieren und aus diesen Investitionen Dividenden beziehen, die der Quellensteuer unterliegen, haben die französische Regelung angefochten. Sie machen eine Diskriminierung im Hinblick auf die vom Unionsrecht gewährleistete Kapitalverkehrsfreiheit geltend.
Das mit diesen Klagen befasste Tribunal administratif de Montreuil (Frankreich) möchte wissen, ob das Recht der Union der französischen Regelung entgegensteht, die die Dividenden inländischer Herkunft, die an OGAW ausgeschüttet werden, je nach dem Ort, an dem der die Dividenden beziehende Organismus ansässig ist, steuerlich unterschiedlich behandelt. Insbesondere möchte es wissen, ob bei der Besteuerung der Dividenden, die von gebietsansässigen Gesellschaften an gebietsfremde OGAW ausgeschüttet werden, der Vergleich der Situationen, um bestimmen zu können, ob eine unterschiedliche Behandlung vorliegt, die ein Hemmnis für den freien Kapitalverkehr darstellt, nur auf der Ebene des OGAW vorzunehmen ist oder ob auch die Situation der Anteilsinhaber berücksichtigt werden muss.
Der Gerichtshof verweist erstens darauf, dass zu den Maßnahmen, die nach dem Recht der Union als Beschränkungen des Kapitalverkehrs verboten sind, solche gehören, die geeignet sind, Gebietsfremde von Investitionen in anderen Staaten abzuhalten. Eine unterschiedliche steuerliche Behandlung der Dividenden, je nachdem, wo der OGAW seinen Sitz hat, ist geeignet, gebietsfremde OGAW von Investitionen in Gesellschaften, die in Frankreich ansässig sind, und in Frankreich ansässige Anleger vom Erwerb von Anteilen an gebietsfremden OGAW abzuhalten. Nach Ansicht des Gerichtshofs stellt die französische Regelung daher eine nach dem Recht der Union grundsätzlich verbotene Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar.
Zweitens prüft der Gerichtshof, ob diese Beschränkung nach den Bestimmungen über den freien Kapitalverkehr gerechtfertigt sein kann. Eine Ungleichbehandlung kann nur dann als mit dem Recht der Union vereinbar angesehen werden, wenn sie Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist.
Um die Vergleichbarkeit der Situation beurteilen zu können, fragt sich der Gerichtshof, ob die Situation der Anteilsinhaber zusammen mit derjenigen der OGAW zu berücksichtigen ist. Er kommt zu dem Ergebnis, dass es zwar Sache jedes Mitgliedstaats ist, unter Beachtung des Unionsrechts sein System der Besteuerung von Gewinnausschüttungen auszugestalten, die Beurteilung der Vergleichbarkeit der Situationen jedoch, wenn in einer nationalen Steuerregelung ein Kriterium für die Besteuerung der ausgeschütteten Gewinne aufgestellt wird, unter Berücksichtigung dieses Kriteriums vorzunehmen ist. Im vorliegenden Fall hat die französische Regelung ein maßgebliches Unterscheidungskriterium eingeführt, das auf den Ort des Sitzes des OGAW abstellt, indem nur bei gebietsfremden OGAW von den Dividenden, die sie beziehen, eine Quellensteuer einbehalten wird. Nach Ansicht des Gerichtshofs hat in Anbetracht dieses Unterscheidungskriteriums die Beurteilung der Vergleichbarkeit der Situationen, um bestimmen zu können, ob diese Regelung diskriminierenden Charakter hat, allein auf der Ebene der OGAW zu erfolgen, ohne dass die Situation der Anteilsinhaber zu berücksichtigen ist. Somit kann die unterschiedliche Behandlung der gebietsansässigen OGAW und der gebietsfremden OGAW nicht durch einen erheblichen in der Situation begründeten Unterschied gerechtfertigt werden.
Des Weiteren prüft der Gerichtshof, ob die unterschiedliche Behandlung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist.
Eine der Rechtfertigungen betrifft die Notwendigkeit der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten. Eine Ungleichbehandlung kann nämlich zulässig sein, wenn mit der nationalen Regelung Verhaltensweisen verhindert werden sollen, die geeignet sind, das Recht des Mitgliedstaats auf Ausübung seiner Steuerhoheit für die in seinem Hoheitsgebiet durchgeführten Tätigkeiten zu gefährden. Hat sich jedoch ein Mitgliedstaat dafür entschieden, die gebietsansässigen OGAW, die Dividenden inländischer Herkunft beziehen, nicht zu besteuern, kann er sich nicht auf die Notwendigkeit einer ausgewogene Aufteilung der Steuerhoheit zwischen den Mitgliedstaaten berufen, um die Besteuerung der gebietsfremden OGAW, die derartige Einkünfte haben, zu rechtfertigen.
Ebenso kann die französische Regelung nicht mit der Notwendigkeit gerechtfertigt werden, die Wirksamkeit der steuerlichen Kontrolle zu gewährleisten, da die Besteuerung nur und spezifisch Gebietsfremde trifft.
Schließlich kann die durch die französische Regelung eingeführte unterschiedliche Behandlung nicht durch die Notwendigkeit der Wahrung der Kohärenz der Steuerregelung gerechtfertigt werden, da zwischen der Befreiung der von einem gebietsansässigen OGAW bezogenen Dividenden inländischer Herkunft von der Quellensteuer und der Besteuerung dieser Dividenden als Einkünfte der Anteilsinhaber dieses OGAW kein unmittelbarer Zusammenhang besteht.
Daher lautet die Antwort des Gerichtshofs, dass das Unionsrecht der französischen Regelung entgegensteht, die die Dividenden inländischer Herkunft einer Quellensteuer unterwirft, wenn sie von in einem anderen Staat ansässigen OGAW bezogen werden, während solche Dividenden, die von im ersten Staat ansässigen OGAW bezogen werden, von der Steuer befreit sind.
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